Das Harvard-Konzept: Win-win-Ergebnisse in Konflikten und Verhandlungen erzielen

Von Thomas Sesli
Aktualisiert am 12.12.2024 | Lesezeit ca. Min.

Das Harvard-Konzept gilt als eine der effektivsten Methoden, um Verhandlungen erfolgreich und fair zu gestalten. Entwickelt von Wissenschaftlern der Harvard-Universität, bietet dieser Ansatz einen klar strukturierten Rahmen, der auf Kooperation und Sachbezogenheit setzt. Anstatt Konflikte durch starres Beharren auf Positionen zu verschärfen, ermöglicht das Harvard-Konzept, kreative und nachhaltige Lösungen zu finden, bei denen alle Beteiligten profitieren.

In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Grundprinzipien des Harvard-Konzepts und zeigen, wie es in unterschiedlichen Kontexten angewendet werden kann – von Geschäftsverhandlungen bis hin zu diplomatischen Gesprächen.

Das Harvard-Konzept verstehen: Die Basics

Das Harvard-Konzept, eine wegweisende Methode im Bereich der Verhandlungsführung, zeichnet sich durch seine sachbezogene Herangehensweise aus, die seit über 40 Jahren erfolgreich angewandt wird.

Herkunft und Entwicklung des Harvard-Konzepts

Das Harvard-Konzept wurde in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren von Wissenschaftlern des Harvard Negotiation Project entwickelt. Dieses Projekt wurde von Roger Fisher, William Ury und anderen Experten ins Leben gerufen, um innovative Ansätze für die Lösung von Konflikten und Verhandlungen zu erforschen. Ihr Ziel war es, universelle Prinzipien zu formulieren, die sowohl im geschäftlichen als auch im persönlichen und politischen Kontext anwendbar sind.

Die Ergebnisse ihrer Forschung wurden in dem Buch Getting to Yes: Negotiating Agreement Without Giving In (deutsch: „Das Harvard-Konzept: Sachgerecht verhandeln – Erfolgreich verhandeln“) erstmals veröffentlicht, das seitdem zu einem Standardwerk für Verhandlungen weltweit geworden ist. Fisher und Ury kombinierten in ihrem Ansatz Erkenntnisse aus Psychologie, Recht, Wirtschaft und Verhaltensforschung.

Im Kern des Harvard-Konzepts steht die Abkehr von traditionellen Verhandlungsstrategien, die oft konfrontativ sind und auf dem Prinzip „Gewinner vs. Verlierer“ beruhen. Stattdessen wird eine sachliche, kooperative Herangehensweise propagiert, die langfristige Beziehungen und Win-win-Lösungen fördert.

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Win-win-Situation: Definition und Bedeutung

Das zentrale Ideal des Harvard-Konzepts ist die sogenannte Win-win-Situation. Diese bezieht sich auf ausgewogene Lösungen, bei denen beide Verhandlungsparteien profitieren und in denen ihre jeweiligen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden. Das sachbezogene Verhandeln gemäß dem Harvard-Konzept zielt darauf ab, genau solche Win-win-Situationen herbeizuführen, um langfristig erfolgreichere und nachhaltigere Ergebnisse gewährleisten zu können.

Über die Jahrzehnte wurde die Verhandlungstechnik kontinuierlich weiterentwickelt und an moderne Herausforderungen angepasst. Sie wird heute in Trainingsprogrammen, Workshops und Lehrplänen weltweit unterrichtet und findet Anwendung in unterschiedlichsten Bereichen – von Unternehmensverhandlungen bis hin zu internationalen Friedensgesprächen.

Traditionelles Verhandeln: Der Gegensatz zum Harvard-Konzept

Mit der Zielsetzung, den eigenen Nutzen zu maximieren, stellt das traditionelle Verhandeln einen starken Gegensatz zum sachbezogenen Verhandeln des Harvard-Konzepts dar. In vielen Fällen resultiert dieser Ansatz in kurzsichtigen Entscheidungen sowie ungleichen und unbefriedigenden Ergebnissen. Insbesondere bei Interessenskonflikten können daraus schädliche Rivalitäten entstehen, welche die langfristige Zusammenarbeit der Parteien belasten oder sogar untergraben.

Grundprinzipien des Harvard-Konzepts

Das Harvard-Konzept basiert auf vier grundlegenden Prinzipien:

Menschen und Probleme separat behandeln (separate the people from the problem)

Beim ersten Prinzip geht es darum, Menschen und Probleme bewusst voneinander zu trennen. Während einer Verhandlung sollten persönliche Emotionen und Meinungen zurückgestellt werden, um sich ausschließlich auf das vorliegende Problem zu konzentrieren. Dadurch entsteht eine sachbezogene Diskussion, in deren Mittelpunkt die gemeinsame Suche nach einer Lösung steht.

Fokus auf Interessen und Bedürfnisse statt Positionen (focus on interests, not positions)

Gemäß dem zweiten Prinzip ist es wichtig, die Interessen beider Seiten in den Vordergrund zu rücken, anstatt sich lediglich auf Positionen zu konzentrieren. Da Positionen oft starre Standpunkte darstellen, können sie die Lösungsfindung erschweren. Erst wenn die zugrundeliegenden Interessen und Bedürfnisse offengelegt werden, entsteht Raum für konstruktive Lösungsansätze.

Entwicklung verschiedener Optionen vor Entscheidungen (invent options for mutual gain)

Das dritte Prinzip des Harvard-Konzepts beinhaltet die Ausarbeitung mehrerer Optionen, bevor eine finale Entscheidung getroffen wird. Auf diese Weise werden kreative und kooperative Ansätze gefördert, die sämtliche Bedürfnisse der beteiligten Parteien berücksichtigen. Die Erarbeitung und Bewertung mehrerer Alternativen erhöht die Wahrscheinlichkeit, eine Win-win-Lösung zu finden.

Anwendung objektiver Kriterien zur Entscheidungsfindung (insist on using objective criteria)

Das abschließende vierte Prinzip setzt auf objektive Kriterien bei der Entscheidungsfindung. Indem Standards wie ökonomische Faktoren und rechtliche Normen herangezogen werden, fällt es leichter, eine ausgewogene und gerechte Lösung zu erarbeiten. Dies ermöglicht es, emotional geprägte und subjektive Aspekte aus der Verhandlung fernzuhalten und zielgerichtet auf einen Konsens hinzuarbeiten.

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Beispiel für die Anwendung des Harvard-Konzepts

Ein typisches Beispiel für die Anwendung des Harvard-Konzepts könnte eine Gehaltsverhandlung zwischen einem Mitarbeiter und einem Arbeitgeber sein.

Anstatt auf starren Positionen zu bestehen – der Mitarbeiter fordert eine Gehaltserhöhung, der Arbeitgeber lehnt ab – konzentrieren sich beide auf die dahinterliegenden Interessen. Der Mitarbeiter erklärt, dass er seine Lebenshaltungskosten decken und für seine berufliche Entwicklung gewürdigt werden möchte. Der Arbeitgeber erklärt, dass das Budget begrenzt ist, er aber den Mitarbeiter motivieren und halten möchte.

Gemeinsam entwickeln sie kreative Optionen: Neben einer moderaten Gehaltserhöhung schlägt der Arbeitgeber vor, zusätzliche Vorteile wie flexible Arbeitszeiten oder Weiterbildungsangebote anzubieten. Beide prüfen objektive Kriterien, etwa branchenübliche Gehälter oder den Marktwert der Position, um die Lösung fair zu gestalten.

Am Ende erreichen sie eine Einigung, die beide Interessen berücksichtigt, und stärken gleichzeitig ihre berufliche Beziehung. Dieses Ergebnis wäre ohne die sachbezogene und kooperative Herangehensweise des Harvard-Konzepts schwer erreichbar gewesen.

BATNA: Die Bedeutung der besten Alternative zur ausgehandelten Vereinbarung

Das Harvard-Konzept empfiehlt das Prinzip der BATNA (Best Alternative To a Negotiated Agreement), wenn eine Einigung nicht möglich erscheint. Hierbei geht es um die beste Alternative, die dir zur Verfügung steht, falls es zu keinem akzeptablen Vertragsabschluss kommt. Die BATNA ist von großer Bedeutung, um zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, eine Verhandlung mit der Hoffnung auf ein erfolgreiches Ergebnis fortzuführen oder abzubrechen.

Den Weg zur erfolgreichen BATNA-Erstellung

Die Ermittlung der BATNA ist ein zentraler Schritt in der Vorbereitung jeder Verhandlung. Um deine beste Alternative herauszufinden, sollten die folgenden Schritte beachtet werden:

  • Analysiere sämtliche Alternativen, die dir zur Verfügung stehen, wenn die Verhandlung scheitert.
  • Vergleiche diese Möglichkeiten hinsichtlich ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können.
  • Wähle diejenige Option, die dir die größten Vorteile bietet und am vielversprechendsten erscheint.

Indem du deine BATNA kennst, stärkst du deine Verhandlungsposition und kannst besser beurteilen, ob ein Angebot angenommen oder abgelehnt werden sollte.

Die Rolle von BATNA in Verhandlungen

Die BATNA ist ein wichtiges Instrument für Verhandlungen, da sie es ermöglicht, selbstbewusst aufzutreten und eine solide Grundlage für den Gesprächsverlauf zu schaffen. Die Kenntnis deiner besten Alternative hat folgende positive Auswirkungen auf deine Verhandlungsführung:

  1. Stärkung der Verhandlungsposition: Die Information über alternative Optionen erlaubt es dir, schlechte Angebote abzulehnen und gleichzeitig mehr Sicherheit in der Verhandlungsführung zu erlangen.
  2. Realistische Erwartungen: Die BATNA unterstützt dich dabei, realistische Ziele für die Verhandlung festzulegen und verhindert überzogene Forderungen oder zu niedrige Angebote.
  3. Fokussierung auf Interessen: Da du bestens informiert über deine BATNA bist, kannst du dich auf die tatsächlichen Interessen konzentrieren, statt unnötig an bestimmten Positionen festzuhalten.
  4. Bessere Entscheidungsfindung: Deine Kenntnis über mögliche Alternativen hilft dir bei der Entscheidung, ob ein vorgelegter Abschluss angenommen oder abgelehnt werden sollte.

Im Rahmen des Harvard-Konzepts ist die BATNA ein bedeutendes Werkzeug, das hilft, den Fokus von Positionen auf Bedürfnisse zu verlagern und gleichzeitig Win-win-Lösungen für alle Beteiligten zu fördern.

Harvard-Konzept: 4 Tipps für erfolgreiche Verhandlungen
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Stolperfallen und Kritikpunkte am Harvard-Konzept

Obwohl das Harvard-Konzept zahlreiche Vorteile aufweist, bringt seine Anwendung auch Herausforderungen und Kritikpunkte mit sich.

Mögliche Herausforderungen in der Anwendung

Das Harvard-Konzept kann in verschiedenen Verhandlungssituationen mit Schwierigkeiten konfrontiert werden. Eine der Herausforderungen entsteht, wenn die verhandelnden Parteien stark asymmetrische Machtverhältnisse aufweisen. In solchen Fällen ist möglicherweise nicht gewährleistet, dass die Interessen und Bedürfnisse beider Seiten gleichermaßen berücksichtigt werden können. Eine Partei mit deutlich mehr Macht könnte darauf bestehen, ihre Positionen auf Kosten der anderen Seite durchzusetzen, ohne Rücksicht auf deren Bedürfnisse und Interessen zu nehmen.

Ferner können Stolperfallen auf emotionaler und kommunikativer Ebene auftauchen. Emotionen oder unterschiedliche kulturelle Hintergründe der verhandelnden Parteien können dazu führen, dass sachliche und zielorientierte Verhandlungen erschwert werden. Um solche Hürden zu erkennen und zu überwinden, sind Geschicklichkeit und Einfühlungsvermögen gefragt.

Kritische Stimmen zum Harvard-Konzept

Ein wesentlicher Kritikpunkt am Harvard-Konzept betrifft den Fokus auf den Win-win-Ansatz. Kritiker führen an, dass nicht alle Verhandlungen zwangsläufig zu Lösungen führen können, die beiden Seiten gerecht werden. In solchen Fällen könne der Schwerpunkt auf einem Kompromiss kontraproduktiv sein und zu Verzögerungen in den Verhandlungen führen.

Des Weiteren wird die Betonung von objektiven Kriterien bei der Entscheidungsfindung kritisch gesehen. In manchen Verhandlungen können objektive Kriterien nur schwer festgelegt oder umstritten sein. Eine angepasste Verhandlungsstrategie, die auf die spezifische Situation zugeschnitten ist und flexible Lösungen sucht, wäre in solchen Fällen angemessener.

Eine weitere Kritik am Harvard-Konzept bezieht sich auf die Annahme, dass alle verhandelnden Parteien sich rational verhalten. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass Emotionen oder persönliche Vorlieben oftmals die Verhandlungen beeinflussen. Dieser Aspekt wird im Harvard-Konzept nicht ausreichend berücksichtigt und sollte stärker in den Fokus gerückt werden.

Tipps für die erfolgreiche Umsetzung des Harvard-Konzepts

Hier einige Tipps, die dir dabei unterstützen, das Harvard-Konzept erfolgreich einzusetzen und so Win-win-Lösungen zu erreichen.

Vorbereitung und Planung der Verhandlung

Die richtige Vorbereitung bildet die Basis für eine erfolgreiche Verhandlung. Deshalb solltest du folgende Schritte berücksichtigen:

  • Analysiere gründlich die Situation, den Verhandlungspartner und deine eigene Position
  • Identifiziere Interessen und Bedürfnisse aller beteiligten Parteien
  • Entwickle vor der Verhandlung objektive Kriterien und mögliche Optionen
  • Formuliere deine eigene BATNA (Best Alternative to a Negotiated Agreement)

Kommunikative Techniken: Fragetechniken und Ich-Botschaften

Eine effektive Kommunikation ist von höchster Wichtigkeit für ein zufriedenstellendes Verhandlungsergebnis. Bei der Anwendung des Harvard-Konzepts solltest du besonderen Wert auf folgende Kommunikationsregeln legen:

  • Verwende offene Fragen, um Interessen und Bedürfnisse herauszufinden
  • Drücke Gefühle und Bedenken durch Ich-Botschaften aus
  • Achte auf einen sachlichen Tonfall und zeige Empathie
  • Denke lösungsorientiert und konzentriere dich auf gemeinsame Ziele

Fazit

Das Harvard-Konzept bietet einen klaren und praxisorientierten Ansatz für erfolgreiche Verhandlungen. Mit seiner Fokussierung auf sachliche Problemlösungen, das Trennen von Personen und Konflikten sowie die Entwicklung kreativer Optionen schafft es die Grundlage für Win-Win-Lösungen, die alle Beteiligten zufriedenstellen.

Seine universelle Anwendbarkeit macht es zu einem wertvollen Werkzeug in nahezu allen Bereichen – von geschäftlichen Verhandlungen bis hin zu persönlichen Konflikten. Wer das Harvard-Konzept verinnerlicht, stärkt nicht nur seine Verhandlungskompetenz, sondern fördert auch langfristig stabile und konstruktive Beziehungen.

FAQ

Nachstehend werden die am häufigsten gestellten Fragen beantwortet.

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