Alexander Graf im Interview: “Unternehmen, die zu lange überlegen, sind raus“

Von Juliane Becker
Aktualisiert am 05.01.2024 | Lesezeit ca. Min.

Alexander Graf, geboren 1980 in Weimar, ist E-Commerce-Experte, -Publisher, -Speaker, -Berater sowie (Co-)Gründer zahlreicher Unternehmen, darunter Spryker Systems und eTribes. Sein E-Commerce-Blog Kassenzone besteht seit 2008 und verzeichnet monatlich rund 50.000 Leser, Hörer und Zuschauer. Von 2007 bis 2011 verantwortet Graf als Senior-Berater die Konzeption, Bewertung und M&A digitaler Geschäftsmodelle der Otto Group. Im Juni 2015 veröffentlicht er zusammen mit Holger Schneider Das E-Commerce Buch, das zu den meistverkauften Publikationen im Bereich E-Commerce zählt.

Alex, du bist seit 15 Jahren im E-Commerce tätig. Was waren rückblickend die Erfahrungen und Erkenntnisse, die dich am meisten geprägt haben?

Ich glaube, die ganz große Erkenntnis kam am Anfang, als ich bei Otto gearbeitet habe, als für mich klar wurde, dass E-Commerce nicht nur ein Kanal ist. Am Anfang haben wir das betrachtet wie einen Verkaufskanal, haben es quasi gleichgesetzt mit einem Katalog. Aber schließlich stellten wir dann durch verschiedene E-Commerce-Modelle, die wir analysiert und betrachtet und erforscht haben, fest: Das ist ja ein komplett eigenes Geschäftsmodell! Das war mein erstes, persönliches Aha-Erlebnis in Hinblick auf den E-Commerce.

Das zweite kam dann spätestens mit dem Aufkommen von Zalando. Da haben wir gesehen, dass ein Unternehmen, welches vor dem Launch eigentlich gar keine relevanten Assets hatte, weder besonders viel Geld noch besonders viele Kundenkontakte, dass dieses Unternehmen also in der Lage war, etablierte Geschäftsmodelle von Otto, Neckermann und Quelle innerhalb kürzester Zeit zu schlagen. Darauf hat mich mein Studium schlichtweg nicht vorbereitet. Ich habe in Kiel BWL und IT studiert und da die ganz klassischen Dinge gelernt: 5-Kräfte-Modell von Porter, BCG-Matrix, und diese ganzen strategischen Grundlagen wurden durch die Digitalisierung und den E-Commerce komplett über den Haufen geworfen.

Das letzte Aha-Erlebnis war sicherlich der Double 11-Day 2019, wo Alibaba innerhalb eines Tages knapp 40 Milliarden Dollar Umsatz gemacht hat. Das ist mehr Umsatz, als viele Branchen in Deutschland in Summe im Jahr machen. Das hat für mich zu starken Umdenk-Effekten geführt. Etwa zu der Einsicht, dass man im E-Commerce nicht zu viel Zeit auf eine vermeintlich richtige Strategie verschwenden sollte, sondern dass man in einen “Wir machen das jetzt!“-Handlungsmodus kommen muss, um besonders schnell neue Sachen auszuprobieren.

Das passt zu dem Spruch, der in deinem LinkedIn-Profil steht: “Innovate or die“. Genau das ist vor allem während der Pandemie deutlich geworden, oder?

“Innovate or die” galt auch schon vorher. Aber was sich gezeigt hat ist, dass die Unternehmen, die schon eine gewisse Basis hatten im E-Commerce, ihr Geschäft abfangen konnten. Und die Unternehmen, die noch ganz am Anfang waren – und das sind natürlich auch viele Händler mit sehr geringer technischer Kompetenz –, sind im Grunde von Corona überfahren worden und konnten dann nicht mehr handeln, weil sie nur noch in der Kostendefensive steckten. Sobald man sich einmal im Verteidigungsmodus befindet und aus dieser Perspektive heraus argumentiert und handelt, hat man eigentlich keine Chance mehr.

Du hast mal gesagt: “Es geht nicht darum, bessere Produkte zu verkaufen, sondern darum, besser Produkte zu verkaufen.“ Wie kann ich mich heute in dieser Hinsicht im E-Commerce noch von meinen Wettbewerbern abheben?

Durch die Nutzung alternativer Devices. Desktop ist der neue stationäre Handel. Die Desktop-Welt ist extrem ausoptimiert, das sieht man an den Millionen Filtern auf Zalando oder Otto. Aber die mobile Welt wird gerade erst erfunden. Es gibt Devices wie Voice, Smart Watches, Devices im Auto und da fängt es ja erst an. Da kann ich mich natürlich als Anbieter extrem gut positionieren.

Dass ich dafür Infrastruktur-Investments tätigen muss, das steht außer Frage. Ich muss meine Produktdaten perfekt beherrschen. Ich muss genau wissen, wohin die Reise mit meinen Absatzkanälen geht. Aber man kann sich schon sehr stark von der Konkurrenz abheben, indem man neue Customer Journeys designt und diese auf neue Interfaces bringt.

Das heißt, dass einer der Erfolgsfaktoren für E-Commerce im Jahr 2021 auf jeden Fall in der Fokussierung auf Mobile- statt Desktop-Commerce liegt?

Genau, wobei: Mobile-Einkäufe machen ja jetzt schon 90 Prozent des Umsatzes aus bei vielen Anbietern. Noch spannender ist so etwas wie Messenger Commerce, also Commerce über WhatsApp und Facebook Messenger beispielsweise. Dadurch kann sehr individuell auf Kundenanfragen geantwortet werden. Das könnten übrigens auch stationäre Händler sehr gut nutzen: Damenunterwäsche ist so ein Fall, wo viele noch gerne stationär einkaufen.

Wenn da jemand jetzt anfängt, eine gute WhatsApp-Betreuung anzubieten, die die Vorlieben ihrer Kunden kennt und ausgewählte Waren möglicherweise auch zu ihnen nach Hause schickt, dann hat der stationäre Händler genauso gute Chancen, diese Kunden zu behalten und zu bedienen, wie das Zalando hat.

Aus deiner Sicht: Welche Erfolgsfaktoren braucht es, um im E-Commerce zu bestehen?

Erfolgsfaktor Nummer eins ist ein direkter Kundenzugang. Wenn ich nur über Amazon oder eine andere Plattform Zugang zu meinen Kunden habe, bin ich langfristig chancenlos. Und Erfolgsfaktor Nummer zwei ist Handlungsgeschwindigkeit. Je schneller ich mich anpassen kann, desto besser. Unternehmen, die zu lange überlegen, sind raus.

Auf was achtest du persönlich, wenn du online einkaufst? Was macht für dich einen guten Online-Shop aus?

Gute Frage. Wenn mir nichts auffällt und ich mich einfach einloggen und problemlos bezahlen kann, dann ist alles gut (lacht). Ich möchte ein friktionsloses Erlebnis. Ich will Sachen schnell in den Warenkorb legen, schnell auf Checkout klicken können. Idealerweise werden meine Sendungsdaten direkt aus PayPal übernommen und innerhalb von fünf Sekunden ist das Ganze erledigt. Relevant ist für mich also der Convenience-Faktor. Wenn ich in einem mir neuen Online-Shop bin und gar nicht merke, dass ich woanders einkaufe, ist das eigentlich genau richtig.

Vielen Dank für das Interview!
Bildquelle: © Saskia Uppenkamp

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