Systemische Fragen: Erklärung und Beispiele für Beruf und Alltag

Von Thomas Sesli, geprüft durch Juliane Becker (zertifiziert von Google)
Aktualisiert am 03.02.2025 | Lesezeit ca. Min.

Was würde passieren, wenn du deinen aktuellen Job verlassen müssest?

Systemische Fragen wie diese sind ein zentrales Instrument in der Coaching- und Beratungswelt. Coaches nutzen sie, um ihre Klienten dabei zu unterstützen, Probleme zu lösen und persönliche Ziele zu erreichen.

Systemische Fragen helfen aber auch im Privat- und Berufsleben dabei, Denkmuster und Glaubenssätze zielgerichtet zu hinterfragen, und ermöglichen Perspektivwechsel sowie innovative Ansätze zur Auflösung festgefahrener Situationen und Konflikte. Wir bringen dir die Grundprinzipien bei.

Wir stellen vor:

  • Zentrale systemische Fragetechniken und ihre Bedeutung
  • Praktische Beispiele für die Anwendung systemischer Fragen
  • Tipps zur effektiven Nutzung von systemischen Fragen in verschiedenen Lebensbereichen

Legen wir los!

Die Bedeutung systemischer Fragen

Systemische Fragen helfen dabei, Probleme aufzudecken und Ziele zu erreichen, indem sie Denkmuster und Glaubenssätze infrage stellen.

Dies fördert neue Perspektiven und trägt zur Lösung festgefahrener Situationen bei. Fangen wir zunächst mit den Grundprinzipien und Anwendungsbereichen der systemischen Fragestellung an.

Grundprinzipien und Anwendungsbereiche

Die Grundprinzipien basieren auf der systemischen Theorie, welche besagt, dass alle Teile eines Systems – seien es Familien oder Organisationen – miteinander verbunden sind.

Diese Verbindung bedeutet, dass Veränderungen in einem Teil des Systems das gesamte System beeinflussen. Systemische Fragen thematisieren diese verknüpften Beziehungen und unterschiedliche Perspektiven.

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Eine kurze Historie der systemischen Theorie

Die systemische Theorie hat ihre Wurzeln in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem eigenständigen Ansatz.

  1. 1920er–1940er

    Der Biologe Ludwig von Bertalanffy entwickelt die Allgemeine Systemtheorie, die die Grundlage für systemisches Denken legt.
    Der Mathematiker Norbert Wiener begründet die Kybernetik, die sich mit Steuerung und Regelkreisen in Systemen beschäftigt.

  2. 1950er–1970er

    Gregory Bateson erforscht systemische Kommunikationsmuster und entwickelt mit Kollegen die Doppelbindungstheorie in der Psychologie.
    Das Palo-Alto-Team (u. a. Paul Watzlawick) überträgt systemische Prinzipien auf die Familientherapie und Kommunikationswissenschaft.

  3. 1980er–1990er
    Der Soziologe Niklas Luhmann entwickelt die Systemtheorie der Gesellschaft, die soziale Systeme als autopoietische Einheiten betrachtet.
    In der Therapie verbreitet sich der systemische Ansatz weiter, besonders in der Familientherapie und Organisationsberatung.

  4. 2000er bis heute
    Die systemische Theorie wird in verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft, Management, Pädagogik und Ökologie angewandt.
    Die Erkenntnisse aus Komplexitätstheorie und Selbstorganisation fließen zunehmend in systemisches Denken ein.

In der Praxis finden systemische Fragen hauptsächlich im Coaching und in der Beratung Anwendung. Sie sind jedoch auch im privaten und beruflichen Alltag hilfreich. Dabei geht es nicht nur darum, Probleme zu identifizieren und zu lösen, sondern ebenso verborgene Ressourcen und Potenziale zu entdecken und zu aktivieren. Mithilfe gezielter Fragestellungen können sowohl Denk- als auch Handlungsmuster hinterfragt und neue Lösungsansätze aufgezeigt werden.

Anwendungsbereiche für systemische Fragen sind:

  • Team- und Organisationsentwicklung
  • Einzelcoaching und persönliche Entwicklung
  • Kommunikation und Konfliktlösung
  • Zielfindung und Entscheidungsfindung

Sechs zentrale systemische Fragetechniken

Schauen wir uns einige Fragetypen und -techniken genauer an – inklusive Beispielfragen.

Zirkuläre Fragen: Perspektivenwechsel und Beziehungsaspekte

Du zielst auf neue Erkenntnisse ab? Mit zirkulären Fragen wird eine Situation aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, um unterschiedliche Lösungsansätze aufzuzeigen. Dabei steht der Beziehungsaspekt im Vordergrund. Diese Fragetechnik erlaubt es, Zusammenhänge und wechselseitige Einflüsse innerhalb eines Systems zu untersuchen.

Beispielfragen:

  • Wie würde dein Kollege die aktuelle Situation beschreiben?
  • Was hat in der Vergangenheit zu ähnlichen Lösungsversuchen geführt?
  • Was müsste geschehen, damit andere Abteilungen unsere Lösungswege besser nachvollziehen können?

Skalierungsfragen: Bewertung von Fortschritten und Zielerreichung

Welche Schritte werden noch benötigt, um an das Ziel zu kommen? Skalierungs- oder Skalenfragen beziehen sich auf eine imaginäre Skala, die den aktuellen Zustand oder ein Ziel einordnet. Dabei werden Fortschritte, Zielerreichung oder die Intensität von Emotionen bewertet. Diese Fragen unterstützen dabei, sowohl aktuelle als auch angestrebte Veränderungen im Prozess greifbarer und messbarer zu machen.

Beispielsweise:

  • Wo würdest du dein aktuelles Wohlbefinden auf einer Skala von eins bis zehn einordnen?
  • An welchem Punkt auf einer Skala von „völlig unzufrieden“ bis „sehr zufrieden“ befindest du dich hinsichtlich deiner Karriere?
  • Was wäre der nächste Schritt, um von einer Sechs auf einer Zufriedenheitsskala auf eine Acht zu gelangen?

Hypothetische Fragen: Reflexion und gedankliche Provokation

Neuer Denkanstoß gefällig? Hypothetische Fragen präsentieren eine imaginäre oder provokante Situation, die zum Reflektieren anregt. Sie helfen dabei, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen und neue, bisher nicht bedachte Lösungswege in Betracht zu ziehen.

So könnten hypothetische Fragen aussehen:

  • Angenommen, du hättest alle Ressourcen und Möglichkeiten dieser Welt – welche Veränderungen würdest du in deinem Leben vornehmen?
  • Was könntest du heute tun, um der Situation in drei Monaten eine andere Richtung zu geben?
  • Wenn Geld keine Rolle spielen würde, welche Entscheidung würdest du treffen?

Die Wunderfrage: Aktivierung von Vorstellungskraft und Motivation

Die Wunderfrage ist eine besondere Art der lösungsorientierten Fragen. Sie zielt darauf ab, die Vorstellungskraft und Motivation der betroffenen Person zu aktivieren. Dabei wird angenommen, dass ein Wunder geschehen ist und das Problem bereits gelöst wurde. Die Wunderfrage lädt ein, diese neue Realität zu erkunden und dadurch wertvolle Ressourcen, Wünsche und Ziele bewusst zu machen.

Beispielfragen:

  • Wenn du heute Nacht schlafen gehst und ein Wunder geschieht, das all deine Probleme löst, woran würdest du morgen früh merken, dass das Wunder stattgefunden hat?
  • Stell dir vor, niemand würde jemals erfahren, dass du dir bei einem bestimmten Problem Hilfe von außen geholt hast. Was wäre der Idealfall, den du dabei erreichen möchtest, und wie könnten wir dabei vorgehen?

Paradoxe Fragen: Selbstreflexion und Anpassung von Problemlösungsstrategien

Paradoxe oder Verschlimmerungsfragen sind provokative Fragen, die darauf abzielen, den Betroffenen dazu zu bringen, sich selbst oder seine Problemlösungsstrategie zu hinterfragen. Durch das Vorstellen einer verschlimmerten Situation oder einer gezielten Übertreibung wird aufgezeigt, welche Aspekte in der eigenen Situation verbessert werden könnten

Etwa:

  • Was würde passieren, wenn du deinen aktuellen Job verlassen müssest?
  • Wie würdest du dich dabei fühlen?

Lösungs- und ressourcenorientierte Fragen: Erkennen von Potenzialen

Lösungs- und ressourcenorientierte Fragen fokussieren sich auf die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen des Betroffenen. Sie eignen sich, um eigene Potenziale zu erkennen und gezielt für die Lösung des Problems einzusetzen. Indem vorhandene Ressourcen hervorgehoben werden, stärkt dies das Selbstvertrauen und fördert die Lösungskompetenz:

  • Welche Stärken und Ressourcen hast du bereits, die dir dabei helfen könnten, ein Ziel zu erreichen?
  • Welche Charaktereigenschaften haben dir beim Bewältigen einer Krise schon einmal geholfen?

Tipps zur Anwendung systemischer Fragen

Systemische Fragen sind ein wirkungsvolles Instrument, um in Beruf und Alltag unterschiedliche Sichtweisen, Lösungsansätze und innovative Ideen hervorzubringen. Wir haben für dich hilfreiche Tipps parat, mit denen du diese Fragen erfolgreich im Gespräch mit anderen einsetzen kannst.

Die Kombination offener und geschlossener Fragen meistern

  • Beginne zunächst mit offenen Fragen, um Raum für vielfältige Denkweisen und Sichtweisen zu schaffen.
  • Nutze anschließend geschlossene Fragen, um konkrete und messbare Informationen zu sammeln.
  • Wechsle regelmäßig zwischen offenen und geschlossenen Fragen, um im Gespräch Flexibilität zu erhalten.

Dir sind die Unterschiede zwischen offenen und geschlossenen Fragen nicht ganz so klar? Schau dir einfach unsere Tabelle an:

Offene Frage Geschlossene Frage
Definition Eine Frage, die eine ausführliche Antwort ermöglicht. Eine Frage, die mit „Ja“, „Nein“ oder einer kurzen Antwort beantwortet wird.
Beispiel „Was hat dir an dem Projekt besonders gefallen?“ „Hat dir das Projekt gefallen?“
Antwortmöglichkeiten Vielfältig und individuell Begrenzt, oft nur eine oder wenige Optionen
Ziel Detaillierte Informationen, Meinungen oder Erklärungen erhalten Eine klare, schnelle und präzise Antwort bekommen
Interaktion Fördert lange Gespräche und tiefere Einblicke Hält die Kommunikation kurz und effizient

Dem Kontext und Rahmenbedingungen Beachtung schenken

Ein entscheidender Aspekt bei der Anwendung systemischer Fragen ist das Verständnis für den Kontext und die Rahmenbedingungen des Gesprächs. Hier einige Aspekte, die du berücksichtigen solltest:

  • Kläre kontextuelle Faktoren wie Rollenverteilung, Ziele und Erwartungen der Beteiligten.
  • Berücksichtige den Hintergrund und die Erfahrungen deines Gesprächspartners.
  • Behalte den Zweck und die Zielsetzung des Gesprächs im Blick.
  • Reagiere flexibel und agil auf neue Informationen und veränderte Situationen.

Nicht zu unterschätzen: Aktives Zuhören

Aktives Zuhören ist eine Kommunikationstechnik, bei der man sich vollständig auf sein Gegenüber konzentriert, um dessen Botschaft nicht nur zu hören, sondern auch wirklich zu verstehen. Es geht darum, Interesse zu zeigen, das Gesagte zu reflektieren und eine empathische Haltung einzunehmen. Dabei spielt die eigene Körpersprache eine wichtige Rolle: Ein aufmerksamer Blick, gelegentliches Nicken und eine offene Haltung signalisieren, dass man sich dem Gesprächspartner widmet.

Während des Gesprächs ist es hilfreich, das Gehörte in eigenen Worten zu paraphrasieren, um sicherzustellen, dass man es richtig verstanden hat. Beispielsweise kann man mit Sätzen wie „Habe ich das richtig verstanden, dass …?“ oder „Du meinst also, dass …“ nachfragen. Dies gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, Missverständnisse zu klären und fühlt sich gleichzeitig wertgeschätzt.

Auch das Einfühlen in die Emotionen des Gesprächspartners ist ein wichtiger Bestandteil des aktiven Zuhörens. Durch verbale Bestätigungen wie „Das klingt wirklich herausfordernd“ oder „Ich verstehe, dass dich das bewegt“ kann man zeigen, dass man nicht nur die Worte, sondern auch die dahinterliegenden Gefühle wahrnimmt.

Lies mehr zum Thema in unserem ausführlichen Artikel Aktives Zuhören: Erprobte Tipps und Techniken, die deinen Kommunikationserfolg steigern

Zusätzliche Fragearten und weitere Anregungen

Doch das war noch nicht alles. Es gibt weitere systemische Fragetypen, die als nützliche Ergänzung sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext dienen können.

Begründungsfragen und ihre Rolle im systemischen Denken

Begründungsfragen dienen dazu, dein Gegenüber aufzufordern, Gedanken und Handlungen detaillierter zu erklären. Sie ermöglichen es, die Grundlagen von Entscheidungen und die zugrunde liegenden Überzeugungen zu erkennen. Durch sie erhältst du zusätzliche Hintergrundinformationen und kannst unsichtbare Bewertungsskalen offenlegen.

Einige Beispiele für Begründungsfragen sind:

  • Wie bist du zu diesem Schluss gekommen?
  • Weshalb ist diese Option für dich besser?
  • Welche Faktoren haben bei deiner Entscheidung eine Rolle gespielt?

Indiskrete Fragen zum Nachdenken und Reflektieren

Indiskrete Fragen regen dein Gegenüber dazu an, intensiver nachzudenken und eigene Werte sowie Prioritäten zu hinterfragen. Es geht dabei nicht um die Preisgabe intimer Details, sondern vielmehr um Denkanstöße und den Ausbruch aus der Komfortzone.

Hier einige Beispiele solcher Fragen:

  • Was möchtest du erreichen, was bisher noch unerreicht geblieben ist?
  • Welche große Herausforderung musst du in naher Zukunft bewältigen?
  • Gibt es etwas, das du lieber verbergen möchtest, aber dennoch ansprechen willst?
Systemische Fragen: 4 Schlüsseltechniken für effektive Kommunikation

Fazit

Systemische Fragen tragen dazu bei, Denk- und Handlungsmuster kritisch zu betrachten und Perspektiven zu wechseln, um festgefahrene Situationen aufzubrechen.

Die drei wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Artikel:

  • Flexible Anwendung: Systemische Fragen sind in verschiedenen Kontexten wie Coaching, Beratung sowie im privaten und beruflichen Alltag einsetzbar, um Problemlösungen herbeizuführen und Potenziale auszuschöpfen.
  • Vielfältige Fragetechniken: Zirkuläre Fragen, Skalierungsfragen, hypothetische Fragen, die Wunderfrage, paradoxe Fragen und lösungsorientierte Fragen erweitern das Repertoire an effektiven Techniken.
  • Praxistipps: Kombiniere offene und geschlossene Fragen, integriere systemische Fragen fließend in den Gesprächsverlauf und berücksichtige den Kontext sowie Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Anwendung.

FAQ

Antworten zu häufig auftretenden Fragen sind im Folgenden aufgeführt.

Quellen:

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