Jochen Krisch im Interview: “Generell kann man sagen: Alles muss effizienter werden”

Von Juliane Becker
Aktualisiert am 05.01.2024 | Lesezeit ca. Min.

Jochen Krisch, geboren 1967 in Parsberg, ist Branchenexperte für E-Commerce. Ab 2001 ist er als unabhängiger Berater und Branchenanalyst tätig, 2005 gründet er den Blog Exciting Commerce, wo er täglich über News und zukunftsweisende Geschäftsmodelle im E-Commerce berichtet. 2011 veranstaltet er die erste K5 Konferenz, ein Jahr später erscheint sein Buch E-Commerce für Fortgeschrittene: 50 Denkanstöße für den Onlinehandel von morgen. Seit 2012 ist der Diplom-Informatiker Mitglied im E-Commerce Beirat der Internetworld Business, als Advisor, Coach und Business Angel unterstützt er Startups im E-Commerce und Medienbereich.

Jochen, du hast in einem berüchtigten Brand Eins-Interview von 2015 gesagt, der stationäre Handel sei zum Scheitern verurteilt. Das ist jetzt fünf Jahre her. Wie blickst du heute auf diese fünf Jahre zurück?

Nun ja, im Grunde hat sich alles bestätigt, was ich angenommen habe. Der stationäre Handel tut sich schwer und der Onlinehandel gewinnt. Mir ging es damals wie heute um die Frage: Wer ist am besten gerüstet für die Zukunft? Und meine Antwort ist und bleibt: Derjenige, der sein Online-Geschäft so betreibt, dass es auch für sich stehen kann. Und da verliert der stationäre Handel einfach, weil er oftmals noch zu abhängig ist von den Filialen.

Die Corona-Pandemie hat in all ihrer Schrecklichkeit viele Möglichkeiten geboten, sich als Händler zu positionieren, sich von der Konkurrenz abzuheben. Gibt es Unternehmen, die das aus deiner Sicht besonders gut gemacht haben?

Ich glaube, es ist noch zu früh, in dieser Hinsicht Gewinner zu ermitteln. Die meisten Unternehmen haben mehr oder weniger improvisiert und versucht, das Beste daraus zu machen.

Wer es ganz besonders gut hinbekommen hat, wird man erst in drei, vier Jahren sehen. Ich denke aber, dass sich, wenn man es so hart formulieren will, gerade die Spreu vom Weizen trennt. Diejenigen, welche die letzten zehn, 20 Jahre nicht genutzt haben, um sich online ein Standbein aufzubauen, für die ist es im Grunde zu spät. Aber die Unternehmen, die das forciert haben, legen jetzt ein extremes Wachstum an den Tag.

Welche Branche hinkt aus deiner Sicht besonders stark hinterher?

E-Food, natürlich. Da ist die Situation aber wirklich speziell, weil weit mehr Nachfrage als Angebot vorhanden ist. Es muss jetzt viel nachgeholt werden, was lange verschlafen wurde, die ganze Infrastruktur muss erst einmal aufgebaut werden. Aber ich würde sagen, in diesem Bereich hat man am ehesten Chancen, trotz eines späten Einstiegs erfolgreich zu sein.

Warum wurde der Bereich E-Food in Deutschland so lange vernachlässigt?

Zum einen ist in Deutschland die Versorgung sehr gut, an praktisch jeder Ecke hat man einen Supermarkt. Vor Corona hörte man deshalb oft das Argument, dass Kunden gar kein Interesse an gelieferten Lebensmitteln hätten. Jetzt wollen alle ihre Lebensmittel nach Hause geliefert bekommen, aber können nicht, weil in den nächsten zwei Wochen keine Liefertermine frei sind. Andererseits sieht man jetzt auch: Picnic kommt, Gorillas kommt, neue Anbieter drängen auf den Markt. Der Bedarf wurde früh genug erkannt.

Picnic ist aber ein Sonderfall, weil sie nicht dem Trend folgen, möglichst schnell zu sein.

Ja, sie sind nicht superschnell wie Gorillas oder Flaschenpost, sie sind effizient. Sie sammeln die Bestellungen am Vorabend oder am Vortag, dann wird die Ware über festgelegte Routen zu den Kunden gebracht. Außerdem schicken sie Leute, die auch, ich nenne es mal so, eine gewisse Grundfreundlichkeit haben. Das sind Leute, die man gerne an der eigenen Haustür empfängt: Ich weiß, da kommt jetzt der Picnic-Mann oder die Picnic-Frau und bringt mir einmal in der Woche, oder zweimal in der Woche, meine Lebensmittel. Ein bisschen wie beim Milchmann früher. Das ist sehr smart gemacht.

Insgesamt glaube ich, rückblickend werden wir sagen, 2019, 2020, 2021 waren die Jahre, in denen der Knoten geplatzt ist, wo all die Dienste angelaufen sind, die uns das Leben komfortabler machen. Im Endeffekt bin ich heute sehr viel optimistischer als 2015, was die nächsten fünf Jahre angeht. Und ich bin guten Mutes, dass der E-Commerce demnächst auch endlich den Stammkunden stärker entgegenkommt. Die wurden nämlich bislang ziemlich vernachlässigt.

Inwiefern können Onlinehändler Stammkunden entgegenkommen?

Amazon zum Beispiel ist einer der Händler, der nicht länger im Neukundengewinnungs-Modus ist, sondern das Ziel hat, es seinen Stammkunden so bequem wie möglich zu machen. Im Grunde ist es ja absurd: Amazon veranstaltet einen Prime Day, der sich explizit nur an die Stammkunden wendet. Da würde jeder andere Händler sagen: So ein Quatsch. Wir wollen doch die Massen erreichen. Dabei macht man mit Stammkunden, die regelmäßig einkaufen, einen viel höheren Umsatz als mit Neukunden, die einmal und dann nie wieder bestellen.

Auch Zalando fokussiert sich jetzt zunehmend auf Wiederbesteller. Das ist ein echtes Novum, weil Zalando in der Hinsicht immer sehr niedrige Zahlen hatte: Wir reden hier von drei, vier Bestellungen pro Kunde und Jahr im Schnitt. Aber das ändert sich jetzt eben nach und nach und das liegt auch daran, dass der Trend in Richtung Plattformen geht. Das Ziel dabei ist es, noch mehr Anlässe zu bieten, bei demselben Händler zu kaufen.

Es geht also darum, den Share of Wallet zu erhöhen?

Genau. Das klappt aber nur, wenn man wirklich ein bequemes, einfaches Shoppingerlebnis bietet. Durch Plattformen wird es auch viel einfacher, den Kunden besser kennenzulernen. Das hebt die Möglichkeiten der Personalisierung dann auf ein ganz neues Level.

Das Einkaufserlebnis im stationären Handel ist oft auch ein Stöber-Erlebnis. Wie lässt sich dies möglichst sinnvoll in den E-Commerce übersetzen?

Es gibt bestimmte Kategorien, wo das Stöbern nicht unbedingt notwendig ist. Da würde ich Food dazuzählen, wo man nur hin und wieder etwas Neues ausprobiert und entsprechende Empfehlungen bekommen möchte. Beim Thema Mode wiederum ist das Stöber-Erlebnis natürlich sehr wichtig. Der E-Commerce hat hier im Gegensatz zum stationären Handel das große Potenzial, durch Daten die Geschmäcker seiner Kunden zu kennen und personalisierte Empfehlungen auszusprechen. Das machen ja sowieso die meisten schon, aber ich denke, das gesunde Mittelmaß zwischen Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit haben noch nicht alle Onlinehänder gefunden.

Was meinst du damit?

Manchmal möchte man auf Dinge stoßen, die komplett außerhalb dessen sind, was man sich für sich vorstellen kann. Outfittery oder Stitch Fix machen das durch ihre Stylisten. Die setzen sozusagen händisch den Impuls: “Okay, dem gebe ich jetzt einmal irgendetwas dazu, was gar nicht in sein bisheriges Profil passt.” Ich glaube schon, dass man das als Kunde durchaus zu schätzen weiß. Wenn es zu berechenbar wird, ist es zu langweilig, zu banal. Dann bleibt der Kunde dem Unternehmen auch nicht lange treu, sondern sieht sich lieber nach etwas Neuem um.

Mit dem boomenden Onlinehandel steigt auch das Paketaufkommen, die Logistik wird zum Nadelöhr. Was können E-Commerce-Unternehmen tun, um dieses Nadelöhr zu umschiffen?

Generell kann man sagen: Alles muss effizienter werden. Da gibt es ein enormes Optimierungspotenzial. Aber das wichtigere Thema ist eigentlich die Letzte Meile, die liegt mir am Herzen. Ich glaube, es wird immer übersehen, dass die Kunden nicht immer nur auf der Webseite eine tolle Customer Experience haben sollten, sondern auch auf der Letzten Meile. Amazon versucht, das mithilfe einer eigenen Logistik sicherzustellen. Das heißt nicht, dass jeder Händler seine komplette Logistik selbst machen muss, aber idealerweise sollte ein eigenes, dezentrales Lager vorhanden sein. Ich glaube, je stärker die Bestellmengen steigen, umso weniger kann man es sich leisten, nur ein zentrales Lager zu haben. Ab einer gewissen Größe ist das schlichtweg ineffizient. Vor allem, weil der Anspruch der Kunden bezüglich einer schnellen Lieferzeit ständig steigt.

Interessant fand ich da, wie Zalando sehr lange auf seine zentrale Logistik aus Berlin heraus gepocht hat. Dass sie lange der Meinung waren, man könne europaweit alles wunderbar effizient verschicken. Bis sie dann in den letzten fünf, sechs Jahren eine extrem dezentrale Logistik aufgebaut haben mit zig Standorten, die komplexer zu verwalten ist, die aber den Vorteil hat, dass sie näher am Kunden ist und damit eine schnellere Lieferung ermöglicht.

Was sind deine Gedanken zum Thema Social Commerce?

Social Commerce definiert jeder immer ein bisschen anders, deshalb zu Beginn: Ich verstehe unter Social Commerce empfehlungsbasierten Handel, wo man von Leuten, denen man folgt oder die man “bewundert”, zum Kauf inspiriert wird. Darin sehe ich ein riesiges Potenzial und ich verfolge das sehr interessiert. Ein Punkt, für den Influencer zwar ständig kritisiert werden, den ich aber sehr spannend finde, ist das Thema Marketing und Kundenansprache. Ich finde, da hat sich ein Segment entwickelt, das das sehr gut kann. Und zwar deutlich besser als die meisten Onlinehändler. Die stellen nur ihre Produkte online, pushen diese über Suchmaschinenmarketing oder andere Marketingkanäle und hoffen dann, dass das Ganze genau den Nerv trifft.

Deswegen würde ich sagen, ich blicke relativ optimistisch in die Zukunft, was Social Commerce angeht. Ich bin auch schwer beeindruckt, was da an neuen Marken entsteht, an Influencern, die das als Geschäftsmodell für sich entdeckt haben. Die nicht nur das Marketing für andere machen, sondern ihre eigenen Marken kreieren und damit sehr erfolgreich sind. Für mich ist das ein eigenes E-Commerce-Segment, was jenseits des klassischen Handelssegments entsteht. Bislang nimmt das nur niemand besonders ernst, weil dahinter keine “richtigen” Händler stehen. Aber ich denke, das könnte sehr, sehr mächtig werden.

Vielen Dank für das Interview!
Bildquelle: © K5 GmbH

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